/Beitrag
Folgen von Katastrophen deutlich reduzieren: Die COVID-19-Pandemie und eine nachhaltigere Zukunft von Städten?!
„Bis 2030 die Zahl der durch Katastrophen, einschließlich Wasserkatastrophen, bedingten Todesfälle und der davon betroffenen Menschen deutlich reduzieren und die dadurch verursachten unmittelbaren wirtschaftlichen Verluste im Verhältnis zum globalen Bruttoinlandsprodukt wesentlich verringern, mit Schwerpunkt auf dem Schutz der Armen und von Menschen in prekären Situationen“
Bei der Bearbeitung von SDG 11 und möglicher Optionen standen für Österreich bislang vor allem die Themen Wohnen, Mobilität, Gesundheit, Umweltbelastungen, Grünräume und Partizipation/Co-Produktion im Vordergrund. Das hat sich in den letzten Wochen bzw. mittlerweile Monaten durch die COVID 19-Pandemie und die damit verbundene „Coronakrise“ geändert; (noch) nicht unbedingt in unserer Arbeit im uniNEtZ, wohl aber im gesellschaftlichen Alltag. Schauen wir aktuell nicht nur auf uns, wie es seit drei Monaten unermüdlich gepredigt wird, sondern schauen wir auf 11.5, dann bleibt uns die Luft im Halse stecken, was, ja am Virus liegt.
Dass uns das Atmen angesichts von 11.5 derzeit schwerer fällt, verweist gleichwohl nicht auf die tatsächliche Krankheit COVID-19, um die es hier gar nicht gehen soll. Es verweist darauf, dass wir in der Arbeitsgruppe zu SDG 11 bislang im Zusammenhang mit Katastrophen den „Schutz der Armen und von Menschen in prekären Situationen“ völlig ignoriert haben. Natürlich hat keiner von uns mit der Wucht einer solchen Pandemie gerechnet – und schon gar nicht „bei uns“. So haben wir das oben zitierte Ziel 11.5 vorrangig im Sinne der rechtlichen Behandlung von Fragen der Verantwortung und des Schadens im Katastrophenfall adressiert. Dies muss nun durch die Pandemie radikal neu thematisiert und, ja, auch in Österreich, sozial differenziert angegangen werden: Die Folgen der Pandemie werden sowohl in wirtschaftlicher als auch in sozialer Hinsicht katastrophal sein. Anstatt, wie im Ziel 11.5 formuliert, Folgen von Katastrophen „deutlich zu reduzieren“, müssen wir derzeit feststellen, wie durch die Pandemie gesellschaftliche Ungleichheiten und Benachteiligungen – bis hin zu sozial differenzierten Todesfällen – deutlich verschärft werden. Und selbst wenn die Zeit des social and physical distancing vorübergehend für das Klima und die ökologische Nachhaltigkeit vorteilhaft war und ist und gezeigt hat, dass ein Umdenken und klimafreundlicherer Lebensstil leicht (!) praktizierbar ist, so steht zu befürchten, dass im "Hochfahren" nicht nur die Klimakrise, sondern auch vordringliche soziale Transformationen ignoriert werden.
Daher steht also – ungeplant – in dieser kurzen Reflexion SDG 11.5 im Mittelpunkt. Auch in Österreich war und ist es wichtig, die Zahl der Todesfälle und vor allem die Zahl der von dieser Katastrophe betroffenen Menschen zu reduzieren. Wir sprechen hier weder die natur- und sozialwissenschaftlichen Ursachen- und Folgenforschung an, noch die Statistiken der Krankheits- und Todesfälle oder die Suche nach Präventionsmaßnahmen zukünftiger "Naturkatastrophen". Im Folgenden stellen wir Beobachtungen zu Alltagskrisen zur Diskussion, die vor und während der Coronakrise teilweise kurz benannt wurden. Wir sehen aber die Gefahr, dass sie in ihrer Dauerkrisenhaftigkeit unerkannt bleiben – in der Bearbeitung von SDG 11 und vor allem darüber hinaus – und damit genauso tödlich wie das Virus sein können. Wir lesen also nachfolgend unsere (bewusst verkürzten) Targets durch das Target 11.5.
11.1 „Bis 2030 den Zugang zu angemessenem, sicherem und bezahlbarem Wohnraum und zur Grundversorgung für alle sicherstellen“
Während der Zeit der Ausgangsbeschränkung wurde der Wohnraum multifunktional genutzt, eine im Sinne der Nachhaltigkeit eigentlich wünschenswerte Tatsache. Er war – oft gleichzeitig und auch an gleicher Stelle – Arbeitsraum und Schulraum, Regenerations- und Begegnungsraum, Schlafraum und Sportraum, Abstellraum und Partyraum. Gerade deswegen wurde aber auch deutlich, wie groß der Unterschied ist, ob man in einem Einfamilienhaus im Grünen oder in einer engen Etagenwohnung lebt. Oder ob man gar nicht im engeren Sinne wohnt, sondern obdachlos ist (siehe auch 11.7). Zugleich war die Frage des Zusammen- oder Alleinlebens nie so präsent, wie während der Ausgangsbeschränkungen und des social distancing: Während manche durch diese notwendigen Maßnahmen weiter sozial isoliert wurden, sind andere durch gegenseitige emotionale Unterstützung zusammengewachsen und wiederum andere Ziel von (oftmals bereits vorher bestehender) innerhäuslicher Gewalt geworden – nicht nur, aber zumeist Frauen und Kinder.
11.2 „Bis 2030 den Zugang zu sicheren, bezahlbaren, zugänglichen und nachhaltigen Verkehrssystemen für alle ermöglichen und die Sicherheit im Straßenverkehr verbessern“
Da die Coronakrise ins Frühjahr fiel, sind in den Städten viele Menschen schnell und einfach auf aktive Mobilitätsformen umgestiegen. Durch den stark gesunkenen motorisierten Verkehr sind auch die Unfallzahlen gesunken. Der nächste Schritt wäre also, die Verkehrswende schnell durch neue urbane Mobilitäts-Infrastrukturen zu ermöglichen, die beides kombiniert erhalten bzw. vorantreiben. Brüssel, Berlin und Bemmel haben die Krise zum Anlass genommen, den Stadtraum gerechter aufzuteilen, ein Phänomen, das u.a. der Stadtgeograph Ed Soja 2010 als „Spatial Justice“ bezeichnet hat. Die österreichischen Städte und Gemeinden sollten diesen Moment nicht verschlafen und Fragen der räumlichen bzw. der Flächengerechtigkeit in die Verkehrswende einbeziehen. Eine der großen kurzfristigen Herausforderungen wird es sein, ein Widererstarken des MIVs beim Wiederhochfahren der Wirtschaft während einer global noch schwelenden Pandemie zu verhindern, und das Vertrauen in einen sicheren ÖPNV durch entsprechende Maßnahmen, Information und Kommunikation gezielt zu fördern.
11.3 „Bis 2030 die Verstädterung inklusiver und nachhaltiger gestalten und die Kapazitäten für eine partizipatorische, integrierte und nachhaltige Siedlungsplanung und -steuerung in allen Ländern verstärken“
Durch die Ausgangsbeschränkungen hat der Mikroraum der Nachbarschaften temporär massiv an Bedeutung gewonnen. Balkonkonzerte, Nachbarschafts-WhatsApp-Gruppen, nachbarliche Unterstützung (insbesondere von Personen, die Risikogruppen angehören) in der Pandemie haben zu einer Besinnung auf die Bedeutung und Werte des Miteinander und der gegenseitigen Unterstützung, oftmals über sozial konstruierte Kategorien von Alter, Herkunft und Geschlecht hinweg, geführt. Eine Aufrechterhaltung des sozialen Austausches und der Unterstützungsnetzwerke wäre in hohem Maße im Sinne einer Verankerung nachhaltiger, integrierter und partizipatorischer sozialer Quartiere erstrebenswert. Auch über Nachbarschaften hinaus waren Online-Interaktionen, -Information und -Partizipation noch nie so stark wie während der Coronakrise. Und obowohl diese Umstellung auf den digitalen Raum nicht von allen entsprechend erwünscht war, sollte sie als Chance für eine tiefere Verankerung digitaler Partizipationsmechanismen genutzt werden, die jedoch im Sinne des „leaving-no-one-behind“ dringend mit entsprechender Information, Schulung und Befähigung einhergehen müssen. Außerdem gilt es datenschutzrechtliche Fragen ebenso wie das Problem der Monopolisierung von Big-Data zu klären beziehungsweise zu unterbinden. Ansonsten drohen Fortschritte in Richtung der Digitalisierung postwendend an die Manifestation undemokratischer Machtverhältnisse durch einige mächtige Akteure der Datenakkumulation verloren zu gehen.
11.6. „Bis 2030 die von den Städten ausgehende Umweltbelastung pro Kopf senken“
Die Zeit des Lockdowns lässt sich in ökologischer Hinsicht vielfach als eine Generalprobe des nachhaltigen Alltagslebens verstehen; eine Generalprobe, die reif für ihre Premiere ist! Die stark gesunkenen Emissionen sind dafür ein Indikator, der allerdings nicht isoliert betrachtet werden darf (s.o. und s.u.). Die gerade in Österreich leicht mögliche regionale Versorgung ist (einmal mehr) bewiesen und nochmals stärker ins gesellschaftliche Bewusstsein eingedrungen.
11.7 „Bis 2030 den allgemeinen Zugang zu sicheren, inklusiven und zugänglichen Grünflächen und öffentlichen Räumen gewährleisten, insbesondere für Frauen und Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen“
Die physische wie psychische Notwendigkeit der Flucht aus räumlich beengten und vielleicht auch sozial schwierigen Wohnverhältnissen wurde während des Lockdowns vielfach diskutiert – und zugleich in Wien durch die geschlossenen Bundesgärten nur unzureichend praktiziert. Und auch hier spielt der Aspekt der räumlichen Gerechtigkeit bzw. der sozialräumlichen Ungerechtigkeit eine wichtige Rolle. So wurde besonders Anwohner*Innen in Städten schonungslos aufgezeigt, wie ungleiche Verteilungen von positiven wie negativen Externalitäten im Stadtraum schnell Belastungen existenzieller Natur hervorrufen können. Insbesondere dann, wenn sie bereits bestehende soziokulturelle Disparitäten potenzieren. Positive Externalitäten, wie der Zugang zu hochwertigen Freiräumen, bieten dringend notwendige Entlastung und frische Luft in Zeiten der häuslichen Isolation. Negative Externalitäten, wie etwa Lärm und Luftverschmutzung, können eben diese auch ohne Virusinfektion schnell zum gesundheitlichen Stresstest werden lassen. Dies zeigt: Wohnraum, Freiraum und die allgemeine Gestaltung unserer Städte hängen direkt miteinander zusammen. Die gesundheitlichen und sogar finanziell messbaren Auswirkungen von (ungleichen) Verteilungen positiver und negativer Externalitäten sind allerdings nicht nur während der Pandemie erfahrbar, sondern wirken fortwährend.
Die durch Sars-CoV2 ausgelöste Katastrophe macht uns sehr deutlich, wie wichtig Target 11.5 auch in
Österreich ist und wie stark es mit den anderen Targets von SDG 11 (sowie anderen SDGs) verwoben ist. In dieser Reflexion fokussieren wir soziale bzw. sozialräumliche Gerechtigkeit im Angesicht der verkörperten Politik der Katastrophe. Die COVID-19-Pandemie und die vermeintlich konsensualen primären Ziele einer "Abflachung der Kurve" bei gleichzeitiger "Abflachung der Wirtschaftskrise" sind ein Beispiel für die Vernachlässigung des Sozialen, die im Krisenmodus besonders virulent, aber im gesellschaftlichen Alltag dauerhaft präsent sind.
Es ist also weniger das Virus oder die Katastrophe der Pandemie an sich, das Menschen unterschiedlich bzw. ungleich und ungerecht trifft. Es sind vor allem die gesellschaftlichen Strukturen, die dazu führen, dass sozioökonomische und kulturelle Ungleichheiten in einem diskriminierenden Virus resultieren. Es muss allen Menschen ungeachtet von sozioökonomischem Status, Alter oder Herkunft möglich sein, sich vor den Begleiterscheinungen und Folgen dieser Katastrophe zu schützen und während, wie nach dem social and physical distancing versorgt zu sein.
Die Chancen für eine Transformation Richtung Nachhaltigkeit, das weite gesellschaftliche Umdenken bzw. „Aufrütteln“ durch die so desaströse Krise müssen radikal genutzt werden. Die junge Generation hat in ihren Fridays for Future Aktivitäten ihre Sorge um die menschliche Zukunft und ihren Einsatz für eine nachhaltigere Vision dieser Zukunft unterstrichen. Wie schon beim anthropogenen Klimawandel, sind es diese jungen und zukünftigen (größtenteils städtischen) Generationen, die besonders von den mittel- und langfristigen Folgen der Pandemie betroffen sein werden. In einer Studie, die junge Menschen in Tirol während der Krise begleitet hat, haben bemerkenswert viele Teilnehmer*innen ihre Hoffnungen (und zugleich Sorgen) für eine sozial-ökologische Transformation durch die Krise in schriftlichen Narrativen ausgedrückt, mit der wir diesen Beitrag enden wollen:
„Ich hoffe vor allem, dass uns Corona mehr eint und uns hilft, dass wir alle an einem Strang ziehen (zum Beispiel in Sachen Klimaschutz, weil wenn wir da nichts machen, dann wird uns genau so ein Szenario wie jetzt erwarten. Wir zerstören die Erde so lang, bis sie uns am Ende zerstört und Corona war jetzt mal ein Vorbote von dem, was uns noch alles erwarten wird). Deshalb hoffe ich, dass Corona uns eint und nicht noch mehr spaltet.“ (Juna, 23)
„Ein ‚Zurück zum Normal‘ sollte nicht angestrebt werden, da davor nichts gut war, sondern wir unsere Systeme ändern müssen, damit wir die Klimaveränderung und ihre Folgen verlangsamen und abschwächen können. Ich hoffe, dass wir neben Corona den Klimawandel nicht aus den Augen verloren haben.“ (Lotta, 23)
„Eine kleine persönliche Hoffnung, die ich aber nicht für sehr realistisch halte, ist dass wie jetzt ersichtlich ist, es doch möglich ist dass sich die ganze Welt verändern kann, wenn sie es wirklich muss.“ (Matteo, 21)