/Beitrag
Sozialer Friede im Kontext von SDG 16
Das in SDG 16 genannte Entwicklungsziel ist nicht eines, es handelt sich vielmehr um drei Ziele, die allerdings eng miteinander verflochten sind. Darüber hinaus liegt die Bedeutung der prima facie trivial erscheinenden Zielbegriffe keineswegs auf der Hand. Worin Friede und Gerechtigkeit bestehen und was die Qualität (Stärke oder Güte) einer Institution ausmacht, bedarf einiger Überlegung ist aber auch dann wohl nur schwer konsensuell bestimmbar, weil Friede und Gerechtigkeit immer auch mit konkreten Vorstellungen eines guten Lebens verbunden sind, dem Institutionen dienen sollen.
Kein sozialer Friede unter Bedingungen struktureller Gewalt
Wenn Friede Abwesenheit von offener, physischer Gewalt zwischen Gruppen oder Kollektiven (Krieg, Bürgerkrieg oder ähnliche Zustände) meint, so ist er als Ziel in Österreich freilich erreicht. Achten wir jedoch auch auf Formen struktureller Gewalt und Gewaltbereitschaft als latente Bedrohungen von Frieden, stellt sich die Situation anders dar.[1] Unter dieser Perspektive rückt der Begriff des sozialen Friedens ins Blickfeld. Sozialer Friede steht in engem Zusammenhang mit dem inneren Zusammenhalt einer Gesellschaft.[2] Ein weit verbreiteter Sprachgebrauch setzt sozialen Frieden mit einer gewaltfreien, regelgeleiteten Bearbeitung der Konflikte zwischen Arbeitgebern (Kapital) und Arbeitnehmern (Arbeit) gleich,[3] und wird im Fehlen von Arbeitskämpfen und Streiks zum Ausdruck gebracht. Hier soll der Begriff des sozialen Friedens etwas weiter gefasst werden und auch den Umgang mit Spannungen und Konflikten zwischen kulturell, sprachlich, ethnisch, religiös und weltanschaulich verschiedenen Gruppen mit in den Blick nehmen. Friede ist dabei nicht der Zustand von Konfliktfreiheit, sondern eher jener einer „Konfliktpartnerschaft“[4], die eine konstruktive Austragung von Interessengegensätzen erlaubt. Insofern ist nachhaltiger Friede abhängig von der Qualität etablierter Governance-strukturen, sowie demokratischer Kultur und Institutionen.[5] Die demokratische Kultur lebt einerseits zweifellos von einer zu Demokratie befähigenden Bildungslandschaft und andererseits von sachlichen, öffentlichen Diskursen, die insbesondere auf verlässliche Medien und Qualitätsjournalismus angewiesen sind.
[1] Zum Begriff der strukturellen Gewalt: Galtung, Johan: Gewalt, Krieg und deren Nachwirkungen. Über sichtbare und unsichtbare Folgen der Gewalt. In: Polylog : Forum für interkulturelle Philosophie (2004), https://them.polylog.org/5/fgj-de.htm#s1 [25.11.2009]
[2] Vgl. Matiasek, Hanns: Sozialer Frieden. Annäherung an einen aktuellen Begriff, SIAK-Journal − Zeitschrift für Polizeiwissenschaft und polizeiliche Praxis, (2, 2012) 30-39, 31. Online: http://dx.doi.org/10.7396/2012_2_C [25.11.2019]
[3] Vgl. Dauerstädt, Michael: Sozialer Friede, in: H. J. Gießmann; B. Rinke (Hrsg.), Handbuch Frieden. Wiesbaden 2011, 557-563, 557.
[4] Ebd. 558.
[5] Vgl. Malloch Brown, Mark: Democratic Governance: Toward a Framework for Sustainable Peace. In: Global Governance (9, 2003), 141-146, 141.
Sozialer Friede und innerer Zusammenhalt einer Gesellschaft
Angesichts der Tatsache, dass Migration ein Phänomen unserer Zeit ist, das in weiten Teilen Europas, auch in Österreich von nicht gerade geringen Teilen der Bevölkerung kritisch gesehen wird, verwies bereits der Nationale Aktionsplan Integration des österreichischen Innenministeriums von 2009 auf die Friedensrelevanz gelingender Integration von Menschen, die nach Österreich kommen, um hier zumindest für einige Jahre zu leben. Dort heißt es: „Integration ist eine der großen Herausforderungen Österreichs für den Erhalt des sozialen Friedens und des wirtschaftlichen Erfolgs.“[6]
Der Nationale Aktionsplan benennt als zentrales Element der Integration den Zugang zu gesellschaftlichen Teilhabechancen (vor allem Bildung und Erwerbsarbeit, aber auch Beteiligung an kulturellen und sportlichen Betätigungen). Davon beeinflusst ist auch der entscheidende Integrationsindikator der Einstellung gegenüber Rechtsstaat und Werten. Hier ist der Blick wiederum über die Integrationsthematik hinaus auszuweiten, denn sowohl bei der angestammten Bevölkerung als auch bei Menschen mit Migrationshintergrund ist die Bindung an rechtliche Normen und soziale Werte als Maßstab für gesellschaftlichen Zusammenhalt essentiell. Diese wird in dem Maße gelebt werde, als Menschen sich als Teil der Gesellschaft in der sie Leben empfinden; wir sollten hinzufügen als anerkannter und wertgeschätzter Teil der Gesellschaft. Im Gegenzug lässt sich formulieren: Je weniger Individuen oder Gruppen sich mit der Gesellschaft, in der sie leben, und deren formellen oder informellen Regeln zu identifizieren vermögen, um so gefährdeter ist der innere Friede der betreffenden Gesellschaft.[7] Das Ausmaß solcher Identifikation wird nicht nur beeinflusst von materiellen und strukturellen Gegebenheiten, sondern auch von dominierenden Diskursen. Diese können durch symbolische bzw. kulturelle Gewalt im Sinne J. Galtungs deformiert werden, was insbesondere dann der Fall ist, wenn sie in mehr oder weniger offener Form direkte Gewalt zu rechtfertigen beginnen.[8] Für politische Entscheidungsträger stellt sich die Aufgabe der innergesellschaftlichen Friedenssicherung daher nicht nur im Sinne der Aufrechterhaltung öffentlicher Sicherheit, sondern auch und besonders als eine Arbeit an jenen Einflussfaktoren dar, die direkte oder auch strukturelle Formen der Gewalt befördern bzw. reduzieren können. Damit ist der Zusammenhang zwischen Frieden und Gerechtigkeit wohl offenkundig. Allerdings sollte eine durch Unrechtsempfinden verursachte Gefährdung des Friedens nicht nur in einer steigenden Gewaltbereitschaft oder sozialen Unruhen vergleichbar der Gilets-Jaunes-Bewegung in Frankreich gesehen werden, sondern durchaus auch in der schleichenden Abkehr wachsender Bevölkerungsgruppen vom gesellschaftlich-demokratischen Grundkonsens. Diese zeigt sich in der jüngsten Vergangenheit in zahlreichen Staaten auch im Wahlverhalten (man denke etwa an den Zustrom zu tendenziell rechtsextremen Parteien, die sich gegen das System und die Eliten wenden), letztlich aber auch in der Abkehr von demokratischen Mitbestimmungsmöglichkeiten, die meist in den Begriff der Politikverdrossenheit gefasst wird. Wenn rechtsstaatliche Institutionen wie Parlamente oder Gerichte nicht mehr respektiert werden aber auch die Kontrollinstanz der Medien generell der Lüge verdächtigt wird, bedeutet dies eine massive und bedrohliche Aushöhlung des gesellschaftlichen Friedens. Letztlich führt diese zu Radikalisierung und dem Verlust von Gesprächsfähigkeit.
[6] Bericht zum Nationalen Aktionsplan Integration, 8. Online: https://www.bmeia.gv.at/fileadmin/user_upload/Zentrale/Integration/NAP/Bericht_zum_Nationalen_Aktionsplan.pdf [25.11.2019]
[7] Siehe auch Matiasek, 33.
[8] Siehe Bonacker, Thorsten; Imbusch, Peter: Zentrale Begriffe der Friedens- und Konfliktforschung: Konflikt, Gewalt, Krieg, Frieden, in: P. Imbusch; R. Zoll: Friedens- und Konfliktforschung. Eine Einführung. Wiesbaden 52010, 67-142, 89.
Ökonomische Ungleichheit und sozialer Friede
Nach Studien aus Deutschland ist die kollektive ökonomische und/oder soziale Deprivation allerdings nicht der einzige, möglicherweise nicht einmal der zentrale Faktor, aus dem sich die Neigung wachsender Bevölkerungsgruppen radikale Bewegungen wie PEGIDA zu unterstützen, erklären lässt. Die Sympathie für solche Gruppen und ihre Ziele ist primär mit Islamophobie und Ausländerfeindlichkeit korreliert.[9] Es scheint hier also weniger um einen Konflikt zwischen Oben und Unten zu gehen, als vielmehr um einen zwischen Innen und Außen. Parallel zur Übereinstimmung mit politischen Zielen von PEGIDA steigt auch die Wahrnehmung von Gewalt als normalem menschlichen Verhalten und die Bereitschaft physische Gewalt als Mittel der Interessendurchsetzung und der Herstellung von „Ordnung“ anzuwenden.[10] In diesem Zusammenhang sei eine bundesdeutsche Debatte unter Soziologen aus den Jahren 2017/18 genannt, in der darüber diskutiert wurde, ob der sozioökonomische Status der entscheidende Faktor für die Zuneigung von Wahlberechtigten zur AfD sei. Umstritten blieb dabei, ob jene Daten, die gegen die sog. Modernisierungsverlierer-These sprechen, auch wirklich valide sind.[11] Ob steigende Ungleichheit und Prekarisierung die wesentlichen Impulsgeber für Erfolge rechtsgerichteter Parteien, ja vielleicht sogar rechtsradikalen Gedankenguts und entsprechenden Verhaltens sind und somit Hauptursachen einer inneren Spaltung der Gesellschaft, vermag ich nicht zu entscheiden. Die angesprochene Diskussion zeigt jedenfalls, dass die Selbstwahrnehmung der Wählerinnen und Wähler hinsichtlich ihrer Rolle als ModernisierungsverliererInnen oder ModernisierungsgewinnerInnen einen eindeutigeren Einfluss auf das Wahlverhalten hat, als der faktische sozioökonomische Status. Darüber waren sich alle Beteiligten an der Auseinandersetzung einig. Wer sich selbst auf der Verliererseite einer Gesellschaft sieht und der Meinung ist, ein zu geringes Stück vom Kuchen abzubekommen, neigt offenkundig zu fremdenfeindlichen Haltungen, dem Wunsch nach ethnischer Homogenität und der Abneigung gegen kulturelle Pluralität.[12] Daraus kann m.E. geschlussfolgert werden, dass die gesellschaftlich dominanten Diskurse über die Chancen und Gefahren von Zuwanderung und deren Einfluss auf den heimischen Arbeitsmarkt und das Sozialsystem vor Ort ebenso bedeutsam für die innere Kohäsion und den sozialen Frieden sind, wie die Wohlstandsverteilung und deren Regelungsmechanismen. Die Bedeutung der Letzteren soll keineswegs heruntergespielt werden. Eine Verringerung der Disparität von Einkommen und Vermögen ist eine Forderung sozialer Gerechtigkeit.[13] Die Zunahme faktischer Gleichheit führt aber keineswegs automatisch zu mehr Zufriedenheit mit dem je eigenen Status der Menschen in einer Gesellschaft.[14] Dies ist insbesondere dann nicht der Fall, wenn schlecht oder gar nicht begründete Bedrohungsszenarien Wohlfahrts-Chauvinismus befeuern. Hier führt uns der Weg neuerlich zurück zum Bereich einer gesamtmenschlichen Bildung, einer an Fakten orientierten medialen Berichterstattung und der Sprachkultur aller politischen Akteure, ohne die gesellschaftlicher Frieden nicht möglich ist. Offene Gewalt, die in Kriminalstatistiken erfasst werden kann, stellt nur die Spitze des Eisbergs sozialen Unfriedens dar, der überall dort um sich greift, wo die genannten Bereiche an Qualität verlieren.
[9] Vgl. Yendell, Alexander; Decker, Oliver; Brähler, Elmar: Wer unterstützt Pegida und was erklärt die Zustimmung zu den Zielen der Bewegung? In: Oliver Decker; Johannes Kiess; Elmar Brähler (Hg.): Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland. Die Leipziger »Mitte«-Studie 2016, Gießen 2016, 137-52, 145f.
[10] Vgl. ebd. 150.
[11] Lengfeld, Holger: Die „Alternative für Deutschland“: eine Partei für Modernisierungsverlierer? In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (2017) 69, 209-233 contra Lux, Thomas: Die AfD und die unteren Statuslagen. Eine Forschungsnotiz zu Holger Lengfelds Studie Die „Alternative für Deutschland“: eine Partei für Modernisierungsverlierer? In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (2018) 70, 255-273.
[12] Lengfeld, Holger: Der „Kleine Mann“ und die AfD: Was steckt dahinter? Antwort an meine Kritiker. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (2018) 70, 295-310, besonders 303.
[13] Nach der European Social Survey-Umfrage von 2016 stimmen etwa 62 Prozent der ÖsterreicherInnen der Aussage zu, dass es in einer fairen Gesellschaft geringe Unterschiede im Lebensstandard geben sollte.
[14] Francis Fukujamas jüngstes Werk mit dem Titel Identität (2018) verweist darauf ebenso wie Age of Anger (2017) von Pankaj Mishra.